1979: Nach 10 Jahren des Schlummers, wurde Rhenofrankonia auf dem 79. Stiftungsfest wieder zum Leben erweckt. Hier die Festrede:
 
Festrede von Josef Schreiber.. gehalten am 7. November 1979 auf dem
79. Stiftungsfest der St. V. K. Th.  Rhenofrankonia

Verehrte Bundesbrüder, liebe Freunde!

Ich möchte meinem Sermon einen Titel geben.  Er soll lauten:
Herzensergießung eines alten Semesters. Ich weiß nicht, wie Ihr das Wort von der Herzensergießung werdet aufnehmen.  Es mag Euch ein wenig poetisch-sentimental, ein wenig antiquiert, vielleicht sogar nicht ernst gemeint vorkommen.  In der Tat entstammt es einer Zeit, da in empfindsamen Briefen ein Freund dem andern sein Herz ergoß.  Das ist lange her.  Dem sachlichen Denken und Sinnen von heute fällt es schwer, vom Herzen zu sprechen und das Herz sprechen zu lassen.  Es ist so, als müsse es erst neu entdeckt werden. Seht, und das ist nun das Schöne, wenn einer wie ich alt geworden ist: ihm ist diese Neuentdeckung gelungen.  Er vermag das Herz ohne Scheu nicht nur in die Hände, sondern auch in den Mund zu nehmen und sich zu seinem Sprachrohr machen zu lassen.  So passe ich denn mit meinen 113 Semestern zum Thema, so wie das Thema zu mir paßt.  Und ich wage sogar zu hoffen, daß Ihr, die Jüngeren und die ganz Jungen nicht ausgeschlossen mir nicht ungern Euer Gehör schenkt. Wenn ich zurückblicke auf jene Zeit, da wir - ich meine meine Altersgruppe - erstmals aufeinander zugingen, um es miteinander als Freund zu versuchen - es war für mich das Jahr 1923 -, dann kann ich es kaum fassen, wie leicht und schnell uns das gelang.  War es denn nicht ein Zufall, der uns zusammengeführt?  Junge Männer, die wir waren, aus den verschiedensten Orten stammend, von irgendeinem Pastor oder Kaplan für Rhenofrankonia gekeilt und zumeist einander fremd: hätten wir nicht auch anderswo Fuß fassen oder isoliert bleiben können?  Gewiß wäre das möglich gewesen.  Aber da es nun so kam, wie es gekommen ist wer mochte da von Zufall sprechen!  Hätte er sich nicht von Lessing belehren lassen müssen,' der in Emilia Galotti die Gräfin Orsina sprechen läßt: "Das Wort Zufall ist Gotteslästerung"' Damals lasen wir ja noch unsere Klassiker!  Nein, so durften und dürfen wir als gläubige Menschen, ohne Mißbrauch mit heiligen Worten zu treiben, sagen: Gott hat es so gefügt, wie er es immer fügt, wenn er einen bestimmten Menschen mit einem oder mehreren bestimmten anderen Mensch verbindet. Was sich hier in Rhenofrankonia begab, das geschah in anderen Verbindungen ebenso: lauter Kreise, in denen junge Menschen mit anderen jungen Menschen sich zu einem Freundschaftsbund zusammenschlossen.  Es brauchte nur ein jeder sein Ja zu sagen, um ein Leben lang mit Gleichgesinnten und Gleichstrebenden verbunden zu bleiben. Aber wir hätten das Tiefste und Zarteste an solcher Freundschaft noch nicht getroffen, wenn wir nicht die Rede bringen würden auf jene eigentümliche Art geistiger Vater- und Sohnschaft in dem Zueinander von Leibbursche und Leibfuchs, die doch jeweils nur durch ein paar Semester voneinander getrennt waren!  Inniger konnte die Freundschaft gar nicht sein.  Das hat in manchen Fällen sehr bald zu einschneidend Konsequenzen geführt. So war es z.B. für mich sehr eindrucksvoll, als mein Leibbursche Franz Zee aus Neuß plötzlich krank wurde.  Da hieß es schnellstens nach Neuß zu seinen Eltern fahren, um ein Lebensmittelpaket zu holen, das der Patient in der damaligen Inflationszeit, bei der mageren Konviktkost dringend benötigte.  Zurückgekehrt, durfte ich dann etliche Tage als Krankenpfleger fungieren.  Damals begann ich am eigenen Mitbruder das vorzuüben, was ich später in den Fußstapfen des heiligen Vinzenz von Paul kranken, armen und alten Menschen zu geben und zu sein versuche würde. Laßt mich, liebe Freunde, an dieser Stelle einfügen, wie sehr in dem Brief, mit dem vor geraumer Zeit unsere soeben rezipierten Bundesbrüder die Neukonstituierung der Aktivitas in Aussicht stellten, wie sehr mir darin jener Satz gefallen hat, daß sie die Absicht hätten, die amicitia nicht nur untereinander zu beweisen, sondern auch auf solche auszugehen, die den Dienst der Caritas von ihnen erwarteten.Manche von uns haben zu unserer Zeit diesen Dienst in der Akademischen Vinzenzkonferenz geübt, hier in Bonn oder anderwärts, insbesondere wenn sie nach Freiburg gingen, wo sie den Mann kennenlernten, der mir selbst, da ich schon im Beruf stand, Vorbild und väterlicher Freund geworden ist: Heinrich Auer, Direktor der Caritasbibliothek.  Er hat in 40 Jahren in der Akademischen Vinzenzkonferenz, der sogenannten AVK, über 1500 Studenten, in der Mehrzahl Theologen, für die Caritas so wie er sie verstand, nämlich als Freundschaftsliebe, zu begeistern und tüchtig zu machen verstanden. Aber inzwischen hatte es für mich wie für eine nicht geringe Zahl weiterer Bundesbrüder eine Zäsur gegeben: die Abkehr vom Studium der Theologie und die Hinwendung zu einer anderen Fakultät.  Es ist hier weder der Ort noch die Stunde, von den inneren Kämpfen und Schmerze zu sprechen, von denen dieser Wechsel begleitet war.  Aber es gehört hierhin, dies auszusprechen: Das, was blieb und was mit uns hinüberging in die neue - wenn ich so sagen darf - Existenzweise, das war die Freundschaft mit denen, die blieben.  Unser Herz hatte uns nicht betrogen.  Wahrhaftig, das war Freundschaft fürs Leben.  In einer gewiß nicht alltäglichen Situation hatte sie ihre erste Bewährungsprobe bestanden.  Es gab keinen Unterschied zwischen Theologen und Nichtmehr-Theologen. - So konnte es geschehen, daß ich im Jahre 1925, als ich meinen Wechsel bereits vollzogen hatte, in der Festschrift zum 25jähr Bestehen von Rhenofrankonia mit einem eigenen Beitrag über „Kulturnot und Priesterhilfe“ vertreten war.  Und daß ich heute, nach 54 Jahren, hier sprechen kann, beweist es nicht, daß das, was uns damals verband, den Wechsel des Standes ebenso wie den der Zeit überstanden hat! In diesem Zusammenhang ist es gewiß angebracht, darauf hinzuweisen, daß Rhenofrankonia in der Person von Michael Schmitz, unserem Levi, lange Jahre einen Nichttheologen als Philistersenior gehabt hat.  Und jeder, der diese Zeit miterleben konnte, weiß, wieviel unsere Verbindung, und gerade die Aktivitas, ihm zu verdanken hat.  Wie gerne wäre er heute dabei!  Aber es kann nicht sein.  Umso herzlicher mag der Gruß sein, den wir von hier zu dem Krankenbett, das ihn schon so lange fest hält, hinüberschicken. Am Krankenbett eines weiteren Mitbruders, der im vergangenen Jahr verstorben ist, habe ich einmal mit tiefer Bewegung dieses Du und Du von Laie und Priester erfahren.  Ich spreche von Adolf Wendel, unserem Kölner Domkapellmeister.  Mit ihm war ich bereits 1923 in der Aktivitas zusammengetroffen.  Ein Jahr später durfte ich anläßlich des großen Thomasjubiläums beim Festhochamt unter seiner Leitung in der Schola mitwirken.  Und nun lag er - wie gesagt - sterbenskrank danieder.  Heinz Roling und ich, die wir in seiner Nähe wohnten, besuchten ihn öfter. Bis zu meinem Lebensende werde ich die letzten Minuten meines letzten Besuches, zwei Tage vor seinem Tode, nicht vergessen.  Ich ahnte, daß ich ihn kein weiteres Mal mehr lebend antreffen würde.  Und dann geschah es, daß ich ihm eröffnete, ich wolle ihn segnen.  Darauf faltete er fromm die Hände und ließ sich von mir andächtig ein großes Kreuz auf die Stirn machen.  "Ich danke Dir für Deinen Segen", kam es mit tränen erstickter Stimme zurück. Liebe Freunde, ich habe gezaudert, ob ich von dieser Szene überhaupt etwas verraten solle.  Aber ist sie nicht signifikant für Charakter und Intensität unserer Freundschaft?  Und nachdem Ihr mir stillschweigend gestattet habt, mein Herz zu ergießen, werdet Ihr den Bericht über einen so subtilen Vorgang wohl gelten lassen. Doch nun muß ich noch einmal zurückblenden!  Wie unverbrüchlich das Treueversprechen war, das wir als Freunde einander gegeben hatten, das bekam gerade der zu spuren, den seine Berufstätigkeit in eine wei entfernte Gegend verschlug.  So erging es mir, als ich nach voraufgegangenen 5 Jahren Kriegsdienst in Freiburg eine neue Stellung und damit eine neue Wahlheimat gefunden hatte.  Gewiß gingen nun die Brief spärlich hin und her, die Begegnungen bei GV.-Treffen waren noch seltener.  Aber es war so, als wartete die eine wie die andere Seite auf die Rückkehr.  Und als ich nach langer Zeit in meine Heimatstadt Köln für immer heimkam, da empfing mich hier unter der Leitung unseres Dr. Haas ein lebendiger Zirkel, in dem wir uns regelmäßig trafen.  Und obwohl mir aufgrund des Altersunterschieds manche Mitglieder fremd waren, wurden wir schnell miteinander vertraut.  Die amicitia war in eines jeden Herz gewissermaßen auf dem Sprung, um sich weiteren Objekten zuzuwenden. - Das ist nahezu 25 Jahre her, und daran hat sich bis heute, auch unter den Nachfolgern von Dr. Haas - ich nenne Adolf Abs und Paul Brem - nichts geändert. Und dann kam für uns alle hier in Köln - inzwischen hatte sich der Kreis geweitet: Freunde aus Düsseldorf, Mönchengladbach und Bonn, und selbst aus der Eifel hatten sich angeschlossen: es kam für uns der Augenblick, da unser Bundesbruder Kardinal Frings von seinem Amte als Erzbischof von Köln zurücktrat.  Wir hatten in all den Jahren zuvor in geziemender Zurückhaltung darauf verzichtet, den über die Maßen engagierten Oberhirten zu unseren monatlichen Treffen einzuladen.  Doch  da er den Schritt in den Ruhestand getan, bedurfte es nur eines geringen Anstoßes, um ihn zur regelmäßigen Teilnahme zu bewegen.  Das alte Rhenofrankonenherz war wieder in ihm erwacht.  Von da an fehlte der blinde Mann, der stets auf einen Begleiter angewiesen war, nie, es sei denn, daß er krank war oder daß eine vorrangige Veranstaltung ihn beansprucht Und dann konnte es sein, daß er seine schriftliche oder telefonische Entschuldigung beim Gastgeber mit dem Satz schloß: "Lieber wäre ich zu Dir gekommen." Es war für ihn übrigens selbstverständlich, daß wir untereinander auf du und du standen, so wie es eben unter Freunden üblich ist. Wenn der Kardinal dann im Februar seinen Geburtstag feierte, so waren wir seine Gäste.  Bei einer solchen Begegnung hat er einmal durch einen Akt besonderer Zartheit bewiesen, wie ernst ihm die amicitia war.  Er nutzte die Gelegenheit unseres Beisammenseins in seinem Hause, um unserem inzwischen verstorbenen Dechant Fuhrmans gleichsam unter den Augen der Freunde die Ernennungsurkunde zum Prälaten zu überreichen. Vieles von dem, was später aus seinem Erinnerungsbuch zu erfahren war oder was nach seinem Tode in Nekrologen über ihn bekannt wurde insbesondere was seinen Anteil an Verlauf und Ergebnis des Konzils anbetrifft, hatte er uns bereits in vertrauten Gesprächen wissen lassen.
Daß der Kardinal uns auch an seinem Humor Anteil zu geben und damit unsere Fidelitas auf eine eigene Weise zu würzen verstand, dafür mag folgendes Beispiel gelten.  Es konnte ihm nicht entgangen sein, daß bei unseren Zusammenkünften zwei von uns - der eine war Theo Lotz und der andere ich selbst - es nicht lassen konnten, einander zu frotzeln, nach dem Wort "Was sich liebt, das neckt sich".  Das hatte der Kardinal gern.  Und wenn er im Verlaufe der Unterhaltung des einen oder anderen Stimme noch nicht vernommen hatte - lange dauerte das sowieso nicht; dafür waren wir beide viel zu vorlaut -, so fragte er: "Ist der Lotz nicht da? " oder "Ist der Schreiber nicht da?" Und dann bereitete es ihm ein Vergnügen, unsere fröhlichen Wortgefechte wie ein Schiedsrichter beim Fußballspiel zu begleiten und den jeweiligen Torstand zu registrieren: 1:0 oder 1:1 oder 2:1 und so fort.  So etwas kann einer, der dabei gewesen ist, nicht aus dem Gedächtnis verlieren.  Aber nun darf ich, dem Schluß meiner Rede mich zuwendend, unseren Kardinal noch einmal in einer ernsten Szene auftreten lassen.  Es war bei einem seiner Jubiläen - ich glaube am Tag der 60.  Wiederkehr seiner Priesterweihe.  Ich hatte ihm aus diesem Anlaß einen Auszug aus einem Brief von Johann Michael Sailer, den ich sehr verehre, übersandt. Sailer, der nochmalige Bischof von Regensburg, war, als er den Brief im Jahre 1801 schrieb, Professor an der Universität Ingolstadt, die aber infolge der Wirren der Napoleonischen Kriege nach Landshut verlegt worden war.  Damals umbrandeten den edlen und aufrechten Mann die widerstrebenden Strömungen der Zeit.  Er stand "im Kreuzfeuer zwischen den fahrenden Vertretern der Aufklärung, die ihn als 'Finsterling' und 'Obskuranten' verschrieen, und den amtlichen kirchlichen Kreisen, die ihm ... mit Mißtrauen begegneten und ihn nur widerwillig und unter dem politischen Druck Ludwigs I. zur Kirchenwürde aufsteigen ließen" (Hubert Schiel, Johann Michael Sailer, Leben und Briefe, Bd.  I, 1948, P.317). Wie sollte der Professor da arbeiten können!  Er kam sich vor, wie ein Sämann im "Distelland" (eben da). - In diese Situation hinein ist der genannte Brief geschrieben.  In ihm findet sich jene Stelle, die ich für den Kardinal ausgezogen hatte. "Ich will in meinem Geleise bleiben, und mein Geleise ist: Zuschauen ohne mit niederzureißen. - Meine Pflicht tun im stillen Aufbauen. - Aus den bei allem Wechsel - über allerm Wechsel dem Erhabenen allein trauen. Die Menschen auch wider ihren Willen liebhaben".  Und dann folgt noch ein kleiner Satz von nur fünf Worten: "Und die Freundschaft heilig halten" (wie oben, Bd.  II, 1952, p.223). Könnte dieser Brief nicht in unserer Zeit und für uns geschrieben worden sein!  Der Kardinal jedenfalls hat es so empfunden.  Als er nämlich sich bei mir bedankte, meinte er in der bedächtigen Art, die wir an ihm so sehr schätzten: "Ein Trost auch für den Bischof heute".  Ganz gewiß hat er dabei den letzten Satz, wo von der Freundschaft die Rede ist,' nicht ausgenommen. Liebe Bundesbrüder, ist es nicht wie ein Vermächtnis an uns alle: dieser Brief Sailers, aber auch das Echo, das er bei unserem Kardinal gefunden?  Und wie anders könnten wir darauf reagieren, als indem wir einander geloben: "Ja,' laßt uns die Freundschaft heilig halten in dieser unserer Zeit! Und laßt uns in allen kommenden Zeiten, was immer sie mit sich bringen mögen, darin nie erlahmen!"
Dixi!