Verehrte Bundesbrüder, liebe Freunde!
Ich möchte meinem Sermon einen Titel geben. Er soll lauten:
Herzensergießung eines alten Semesters. Ich weiß nicht,
wie Ihr das Wort von der Herzensergießung werdet aufnehmen.
Es mag Euch ein wenig poetisch-sentimental, ein wenig antiquiert, vielleicht
sogar nicht ernst gemeint vorkommen. In der Tat entstammt es einer
Zeit, da in empfindsamen Briefen ein Freund dem andern sein Herz ergoß.
Das ist lange her. Dem sachlichen Denken und Sinnen von heute fällt
es schwer, vom Herzen zu sprechen und das Herz sprechen zu lassen.
Es ist so, als müsse es erst neu entdeckt werden. Seht, und das ist
nun das Schöne, wenn einer wie ich alt geworden ist: ihm ist diese
Neuentdeckung gelungen. Er vermag das Herz ohne Scheu nicht nur in
die Hände, sondern auch in den Mund zu nehmen und sich zu seinem Sprachrohr
machen zu lassen. So passe ich denn mit meinen 113 Semestern zum
Thema, so wie das Thema zu mir paßt. Und ich wage sogar zu
hoffen, daß Ihr, die Jüngeren und die ganz Jungen nicht ausgeschlossen
mir nicht ungern Euer Gehör schenkt. Wenn ich zurückblicke auf
jene Zeit, da wir - ich meine meine Altersgruppe - erstmals aufeinander
zugingen, um es miteinander als Freund zu versuchen - es war für mich
das Jahr 1923 -, dann kann ich es kaum fassen, wie leicht und schnell uns
das gelang. War es denn nicht ein Zufall, der uns zusammengeführt?
Junge Männer, die wir waren, aus den verschiedensten Orten stammend,
von irgendeinem Pastor oder Kaplan für Rhenofrankonia gekeilt und
zumeist einander fremd: hätten wir nicht auch anderswo Fuß fassen
oder isoliert bleiben können? Gewiß wäre das möglich
gewesen. Aber da es nun so kam, wie es gekommen ist wer mochte da
von Zufall sprechen! Hätte er sich nicht von Lessing belehren
lassen müssen,' der in Emilia Galotti die Gräfin Orsina sprechen
läßt: "Das Wort Zufall ist Gotteslästerung"' Damals lasen
wir ja noch unsere Klassiker! Nein, so durften und dürfen wir
als gläubige Menschen, ohne Mißbrauch mit heiligen Worten zu
treiben, sagen: Gott hat es so gefügt, wie er es immer fügt,
wenn er einen bestimmten Menschen mit einem oder mehreren bestimmten anderen
Mensch verbindet. Was sich hier in Rhenofrankonia begab, das geschah in
anderen Verbindungen ebenso: lauter Kreise, in denen junge Menschen mit
anderen jungen Menschen sich zu einem Freundschaftsbund zusammenschlossen.
Es brauchte nur ein jeder sein Ja zu sagen, um ein Leben lang mit Gleichgesinnten
und Gleichstrebenden verbunden zu bleiben. Aber wir hätten das Tiefste
und Zarteste an solcher Freundschaft noch nicht getroffen, wenn wir nicht
die Rede bringen würden auf jene eigentümliche Art geistiger
Vater- und Sohnschaft in dem Zueinander von Leibbursche und Leibfuchs,
die doch jeweils nur durch ein paar Semester voneinander getrennt waren!
Inniger konnte die Freundschaft gar nicht sein. Das hat in manchen
Fällen sehr bald zu einschneidend Konsequenzen geführt. So war
es z.B. für mich sehr eindrucksvoll, als mein Leibbursche Franz Zee
aus Neuß plötzlich krank wurde. Da hieß es schnellstens
nach Neuß zu seinen Eltern fahren, um ein Lebensmittelpaket zu holen,
das der Patient in der damaligen Inflationszeit, bei der mageren Konviktkost
dringend benötigte. Zurückgekehrt, durfte ich dann etliche
Tage als Krankenpfleger fungieren. Damals begann ich am eigenen Mitbruder
das vorzuüben, was ich später in den Fußstapfen des heiligen
Vinzenz von Paul kranken, armen und alten Menschen zu geben und zu sein
versuche würde. Laßt mich, liebe Freunde, an dieser Stelle einfügen,
wie sehr in dem Brief, mit dem vor geraumer Zeit unsere soeben rezipierten
Bundesbrüder die Neukonstituierung der Aktivitas in Aussicht stellten,
wie sehr mir darin jener Satz gefallen hat, daß sie die Absicht hätten,
die amicitia nicht nur untereinander zu beweisen, sondern auch auf solche
auszugehen, die den Dienst der Caritas von ihnen erwarteten.Manche von
uns haben zu unserer Zeit diesen Dienst in der Akademischen Vinzenzkonferenz
geübt, hier in Bonn oder anderwärts, insbesondere wenn sie nach
Freiburg gingen, wo sie den Mann kennenlernten, der mir selbst, da ich
schon im Beruf stand, Vorbild und väterlicher Freund geworden ist:
Heinrich Auer, Direktor der Caritasbibliothek. Er hat in 40 Jahren
in der Akademischen Vinzenzkonferenz, der sogenannten AVK, über 1500
Studenten, in der Mehrzahl Theologen, für die Caritas so wie er sie
verstand, nämlich als Freundschaftsliebe, zu begeistern und tüchtig
zu machen verstanden. Aber inzwischen hatte es für mich wie für
eine nicht geringe Zahl weiterer Bundesbrüder eine Zäsur gegeben:
die Abkehr vom Studium der Theologie und die Hinwendung zu einer anderen
Fakultät. Es ist hier weder der Ort noch die Stunde, von den
inneren Kämpfen und Schmerze zu sprechen, von denen dieser Wechsel
begleitet war. Aber es gehört hierhin, dies auszusprechen: Das,
was blieb und was mit uns hinüberging in die neue - wenn ich so sagen
darf - Existenzweise, das war die Freundschaft mit denen, die blieben.
Unser Herz hatte uns nicht betrogen. Wahrhaftig, das war Freundschaft
fürs Leben. In einer gewiß nicht alltäglichen Situation
hatte sie ihre erste Bewährungsprobe bestanden. Es gab keinen
Unterschied zwischen Theologen und Nichtmehr-Theologen. - So konnte es
geschehen, daß ich im Jahre 1925, als ich meinen Wechsel bereits
vollzogen hatte, in der Festschrift zum 25jähr Bestehen von Rhenofrankonia
mit einem eigenen Beitrag über „Kulturnot und Priesterhilfe“ vertreten
war. Und daß ich heute, nach 54 Jahren, hier sprechen kann,
beweist es nicht, daß das, was uns damals verband, den Wechsel des
Standes ebenso wie den der Zeit überstanden hat! In diesem Zusammenhang
ist es gewiß angebracht, darauf hinzuweisen, daß Rhenofrankonia
in der Person von Michael Schmitz, unserem Levi, lange Jahre einen Nichttheologen
als Philistersenior gehabt hat. Und jeder, der diese Zeit miterleben
konnte, weiß, wieviel unsere Verbindung, und gerade die Aktivitas,
ihm zu verdanken hat. Wie gerne wäre er heute dabei! Aber
es kann nicht sein. Umso herzlicher mag der Gruß sein, den
wir von hier zu dem Krankenbett, das ihn schon so lange fest hält,
hinüberschicken. Am Krankenbett eines weiteren Mitbruders, der im
vergangenen Jahr verstorben ist, habe ich einmal mit tiefer Bewegung dieses
Du und Du von Laie und Priester erfahren. Ich spreche von Adolf Wendel,
unserem Kölner Domkapellmeister. Mit ihm war ich bereits 1923
in der Aktivitas zusammengetroffen. Ein Jahr später durfte ich
anläßlich des großen Thomasjubiläums beim Festhochamt
unter seiner Leitung in der Schola mitwirken. Und nun lag er - wie
gesagt - sterbenskrank danieder. Heinz Roling und ich, die wir in
seiner Nähe wohnten, besuchten ihn öfter. Bis zu meinem Lebensende
werde ich die letzten Minuten meines letzten Besuches, zwei Tage vor seinem
Tode, nicht vergessen. Ich ahnte, daß ich ihn kein weiteres
Mal mehr lebend antreffen würde. Und dann geschah es, daß
ich ihm eröffnete, ich wolle ihn segnen. Darauf faltete er fromm
die Hände und ließ sich von mir andächtig ein großes
Kreuz auf die Stirn machen. "Ich danke Dir für Deinen Segen",
kam es mit tränen erstickter Stimme zurück. Liebe Freunde, ich
habe gezaudert, ob ich von dieser Szene überhaupt etwas verraten solle.
Aber ist sie nicht signifikant für Charakter und Intensität unserer
Freundschaft? Und nachdem Ihr mir stillschweigend gestattet habt,
mein Herz zu ergießen, werdet Ihr den Bericht über einen so
subtilen Vorgang wohl gelten lassen. Doch nun muß ich noch einmal
zurückblenden! Wie unverbrüchlich das Treueversprechen
war, das wir als Freunde einander gegeben hatten, das bekam gerade der
zu spuren, den seine Berufstätigkeit in eine wei entfernte Gegend
verschlug. So erging es mir, als ich nach voraufgegangenen 5 Jahren
Kriegsdienst in Freiburg eine neue Stellung und damit eine neue Wahlheimat
gefunden hatte. Gewiß gingen nun die Brief spärlich hin
und her, die Begegnungen bei GV.-Treffen waren noch seltener. Aber
es war so, als wartete die eine wie die andere Seite auf die Rückkehr.
Und als ich nach langer Zeit in meine Heimatstadt Köln für immer
heimkam, da empfing mich hier unter der Leitung unseres Dr. Haas ein lebendiger
Zirkel, in dem wir uns regelmäßig trafen. Und obwohl mir
aufgrund des Altersunterschieds manche Mitglieder fremd waren, wurden wir
schnell miteinander vertraut. Die amicitia war in eines jeden Herz
gewissermaßen auf dem Sprung, um sich weiteren Objekten zuzuwenden.
- Das ist nahezu 25 Jahre her, und daran hat sich bis heute, auch unter
den Nachfolgern von Dr. Haas - ich nenne Adolf Abs und Paul Brem - nichts
geändert. Und dann kam für uns alle hier in Köln - inzwischen
hatte sich der Kreis geweitet: Freunde aus Düsseldorf, Mönchengladbach
und Bonn, und selbst aus der Eifel hatten sich angeschlossen: es kam für
uns der Augenblick, da unser Bundesbruder Kardinal Frings von seinem Amte
als Erzbischof von Köln zurücktrat. Wir hatten in all den
Jahren zuvor in geziemender Zurückhaltung darauf verzichtet, den über
die Maßen engagierten Oberhirten zu unseren monatlichen Treffen einzuladen.
Doch da er den Schritt in den Ruhestand getan, bedurfte es nur eines
geringen Anstoßes, um ihn zur regelmäßigen Teilnahme zu
bewegen. Das alte Rhenofrankonenherz war wieder in ihm erwacht.
Von da an fehlte der blinde Mann, der stets auf einen Begleiter angewiesen
war, nie, es sei denn, daß er krank war oder daß eine vorrangige
Veranstaltung ihn beansprucht Und dann konnte es sein, daß er seine
schriftliche oder telefonische Entschuldigung beim Gastgeber mit dem Satz
schloß: "Lieber wäre ich zu Dir gekommen." Es war für ihn
übrigens selbstverständlich, daß wir untereinander auf
du und du standen, so wie es eben unter Freunden üblich ist. Wenn
der Kardinal dann im Februar seinen Geburtstag feierte, so waren wir seine
Gäste. Bei einer solchen Begegnung hat er einmal durch einen
Akt besonderer Zartheit bewiesen, wie ernst ihm die amicitia war.
Er nutzte die Gelegenheit unseres Beisammenseins in seinem Hause, um unserem
inzwischen verstorbenen Dechant Fuhrmans gleichsam unter den Augen der
Freunde die Ernennungsurkunde zum Prälaten zu überreichen. Vieles
von dem, was später aus seinem Erinnerungsbuch zu erfahren war oder
was nach seinem Tode in Nekrologen über ihn bekannt wurde insbesondere
was seinen Anteil an Verlauf und Ergebnis des Konzils anbetrifft, hatte
er uns bereits in vertrauten Gesprächen wissen lassen.
Daß der Kardinal uns auch an seinem Humor Anteil zu geben und
damit unsere Fidelitas auf eine eigene Weise zu würzen verstand, dafür
mag folgendes Beispiel gelten. Es konnte ihm nicht entgangen sein,
daß bei unseren Zusammenkünften zwei von uns - der eine war
Theo Lotz und der andere ich selbst - es nicht lassen konnten, einander
zu frotzeln, nach dem Wort "Was sich liebt, das neckt sich". Das
hatte der Kardinal gern. Und wenn er im Verlaufe der Unterhaltung
des einen oder anderen Stimme noch nicht vernommen hatte - lange dauerte
das sowieso nicht; dafür waren wir beide viel zu vorlaut -, so fragte
er: "Ist der Lotz nicht da? " oder "Ist der Schreiber nicht da?" Und dann
bereitete es ihm ein Vergnügen, unsere fröhlichen Wortgefechte
wie ein Schiedsrichter beim Fußballspiel zu begleiten und den jeweiligen
Torstand zu registrieren: 1:0 oder 1:1 oder 2:1 und so fort. So etwas
kann einer, der dabei gewesen ist, nicht aus dem Gedächtnis verlieren.
Aber nun darf ich, dem Schluß meiner Rede mich zuwendend, unseren
Kardinal noch einmal in einer ernsten Szene auftreten lassen. Es
war bei einem seiner Jubiläen - ich glaube am Tag der 60. Wiederkehr
seiner Priesterweihe. Ich hatte ihm aus diesem Anlaß einen
Auszug aus einem Brief von Johann Michael Sailer, den ich sehr verehre,
übersandt. Sailer, der nochmalige Bischof von Regensburg, war, als
er den Brief im Jahre 1801 schrieb, Professor an der Universität Ingolstadt,
die aber infolge der Wirren der Napoleonischen Kriege nach Landshut verlegt
worden war. Damals umbrandeten den edlen und aufrechten Mann die
widerstrebenden Strömungen der Zeit. Er stand "im Kreuzfeuer
zwischen den fahrenden Vertretern der Aufklärung, die ihn als 'Finsterling'
und 'Obskuranten' verschrieen, und den amtlichen kirchlichen Kreisen, die
ihm ... mit Mißtrauen begegneten und ihn nur widerwillig und unter
dem politischen Druck Ludwigs I. zur Kirchenwürde aufsteigen ließen"
(Hubert Schiel, Johann Michael Sailer, Leben und Briefe, Bd. I, 1948,
P.317). Wie sollte der Professor da arbeiten können! Er kam
sich vor, wie ein Sämann im "Distelland" (eben da). - In diese Situation
hinein ist der genannte Brief geschrieben. In ihm findet sich jene
Stelle, die ich für den Kardinal ausgezogen hatte. "Ich will in meinem
Geleise bleiben, und mein Geleise ist: Zuschauen ohne mit niederzureißen.
- Meine Pflicht tun im stillen Aufbauen. - Aus den bei allem Wechsel -
über allerm Wechsel dem Erhabenen allein trauen. Die Menschen auch
wider ihren Willen liebhaben". Und dann folgt noch ein kleiner Satz
von nur fünf Worten: "Und die Freundschaft heilig halten" (wie oben,
Bd. II, 1952, p.223). Könnte dieser Brief nicht in unserer Zeit
und für uns geschrieben worden sein! Der Kardinal jedenfalls
hat es so empfunden. Als er nämlich sich bei mir bedankte, meinte
er in der bedächtigen Art, die wir an ihm so sehr schätzten:
"Ein Trost auch für den Bischof heute". Ganz gewiß hat
er dabei den letzten Satz, wo von der Freundschaft die Rede ist,' nicht
ausgenommen. Liebe Bundesbrüder, ist es nicht wie ein Vermächtnis
an uns alle: dieser Brief Sailers, aber auch das Echo, das er bei unserem
Kardinal gefunden? Und wie anders könnten wir darauf reagieren,
als indem wir einander geloben: "Ja,' laßt uns die Freundschaft heilig
halten in dieser unserer Zeit! Und laßt uns in allen kommenden Zeiten,
was immer sie mit sich bringen mögen, darin nie erlahmen!"
Dixi!